Die Zukunft der Gemeinde ist diakonisch!?

 

Die Diakonie wächst! Wenn eine grobe Linie erlaubt ist: Aus den Diakonischen Bezirksstellen, die nach dem Krieg mit ein oder zwei Mitarbeitern gegründet wurden, wuchsen teilweise große Verbände mit mehr als 100 Beschäftigten und ausdifferenziertem Beratungsangebot. Dies war eine Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen und eine Konsequenz aus der Ausrichtung an den Bedarfen der Menschen. Selbstverständlich hat die Diakonie auch vom wachsenden Sozialstaat profitiert.

Die Kirche schrumpft! Die Kirchengemeinden spüren es am eigenen Leib, dass die Pfarrstellen weniger, die Konfirmandenjahrgänge kleiner, die Taufneigung geringer wird. Es kostet manchmal schon Anstrengung, nicht im Lamentieren hängen zu bleiben und sich in einer depressiven Stimmung einzurichten. Wie können sich Kirche und Diakonie befruchten?

Zur diakonischen Beratungsstelle gehe ich, wenn ich ein Problem habe oder in einer Notlage bin und die Hoffnung habe: Dort kann mir geholfen werden! Der Überschuldete hat gehört: Dort gibt es professionelle Beratung, ich bekomme zeitnah einen Termin, manchmal werde ich auch konkret finanziell unterstützt. Ein Versuch lohnt sich! Die Schwangere weiß nicht, ob sie sich ein weiteres Kind zutraut. Sie will zur Konfliktberatung. So geht sie in die Beratungsstelle. Alle wissen: Gedacht ist die Beratung als Beziehung auf Zeit, bezogen auf einen konkreten Anlass.

An meine Pfarrerin wende ich mich, wenn ich mein Kind taufen lassen will. Auch eine Beziehung auf Zeit. Den Taufspruch suche ich mir im Internet heraus. In den Gottesdienst gehe ich, wenn ich mich dort wohlfühle und ich ihn in meinen Arbeitsalltag integrieren kann. Mein Kind schicke ich in die Kinderkirche, wenn es gern dorthin geht und ich am Sonntag nichts Anderes vorhabe. Es wird immer Menschen geben, die das Modell der Kirchengemeinde vor Ort attraktiv findet. Aber die Zahl derer, die ihre Freizeit anders gestaltet, nimmt zu.

Wie sieht Bedarfsorientierung in Kirchengemeinden aus? Was ist der Beitrag der Kirche für das Gemeinwohl? Wo bringt sich die Kirche ein, um die Lebensqualität nicht nur der eigenen Mitglieder, sondern der Menschen im Dorf oder Quartier zu steigern? Wie versteht sich die Kirchengemeinde im komplexen Beziehungsgeflecht von Dorf oder Quartier?

Diese Fragen sind für Kirche und Diakonie gleichermaßen wichtig. Denn Diakonie als Reparaturbetrieb ist Diakonie von gestern. Selbstverständlich wird es Einzelfallhilfe immer geben müssen – wer Hunger hat, braucht etwas zu essen und kein Quartiersentwicklungsprojekt. Aber dennoch könnte genau dieses Projekt dazu führen, dass es weniger Einzelfallhilfe braucht, weil Probleme vor Ort erkannt und weil vor Ort im Konzert vieler Akteure nach Lösungen gesucht wird.

Klaus Dörner hat in seinem Klassiker „Leben und sterben, wo ich hingehöre“ nachgezeichnet, wie in der Neuzeit die Benachteiligten Schritt für Schritt aus den Haushalten und allgemeinen Lebenszusammenhängen verschwunden sind. Als die kirchliche Armenfürsorge gescheitert war, nahmen die Städte ab 1500 das Zepter selbst in die Hand. Die fremden Armen wurde aus der Stadt verwiesen, die gesunden Armen gemaßregelt und später ins Zuchthaus gesteckt. Nur die kranken Armen waren die guten Armen, die Anspruch auf Versorgung hatten.

Im 19. Jahrhundert wurden die Menschen mit Behinderungen in großen Einrichtungen gesammelt und dort fortschrittlich und besser versorgt, als jemals zuvor. Aber sie waren eben auch „weg“.

Dieses Rad versucht die Politik gerade machtvoll zurückzudrehen. Mit dem Bundesteilhabegesetz rücken die Bedürfnisse der Person in den Mittelpunkt – was will sie – und sie selbst sucht sich aus, welche Leistungen der Institution sie in Anspruch nimmt. Vollversorgung in einer Einrichtung wird der Vergangenheit angehören. Die diakonischen Träger müssen diesen Weg mitgehen, mit allen Verbesserungen und Unwägbarkeiten, die momentan damit noch verbunden sind.

Grundlegend für eine diakonische Entwicklung der Gemeinde ist sicherlich die Vorstellung, die wir mit dem Begriff „Helfen“ verbinden. Dörner unterscheidet zwei Grundformen:

„Ich kann einmal so helfen, dass ich dem Anderen gebe und der Andere nimmt, und dabei bleibt es. Dann besteht die Gefahr, dass es mir zwar besser geht, ich habe an Bedeutung für Andere gewonnen, während es dem Anderen eher schlechter geht, da er – immer nur nehmend – an Selbstachtung verliert. …

Die Alternative besteht darin, dass ich dem Anderen so helfe, dass ich zunächst mal nicht aktivisch auf den Anderen zugehe, sondern mich passivisch … als von dem Anderen in Dienst genommen betrachte, … Kriterium für ein solches, nicht aneignendes, gelingendes Helfen wäre, dass eine Beziehung entsteht, in der ich und der Andere, getrennt voneinander, an Bedeutung für Andere zunehmen.“ (S. 120)

Wie schaffen wir es, dass auch der Mensch, der sich für minderwertig hält, dem alle sagen, dass er nichts kann und dass er immer auf Hilfe angewiesen sein wird, Bedeutung für andere hat? Wie bekommt jeder seine „Tagesdosis“ Bedeutung für andere? Blicken wir auf die Arbeit in den Arbeitskreisen Asyl zurück, werden wir feststellen, dass viel Gutes für andere getan wurde. Aber immer wieder ist es eben nicht gelungen, dass sich die Geflüchteten als wichtig für andere erfahren konnten. Dazu haben viel die fehlenden Sprachkurse und Arbeitsverbote beigetragen. Manches aber auch die Art und Weise, wie Hilfe erbracht wurde.

Dass sich das Verständnis von „Hilfe“ verändert hat, können wir auch dort wahrnehmen, wo die Zivilgesellschaft in die Planung von Projekten einbezogen wird. Die Bürger lassen es sich teilweise nicht mehr gefallen, dass irgendwo irgendwas entschieden wird, was sie hinnehmen sollen. Sie wollen sich einbringen mit ihren Möglichkeiten – und sie wollen ihre Kritik loswerden. Auch wenn das manchmal anstrengend für alle Beteiligten ist.

Kirche und ihre Diakonie haben den gleichen Auftrag: Gottes Liebe zu verkündigen in Wort und Tat. Wie geht das? Durch Predigt, Seelsorge, Unterricht, Beratung, Hilfe im Einzelfall und vor allem nur in Beziehungen. Gemeinsam können Diakonie und Kirche nach Antworten suchen auf die Fragen: Was brauchen die Menschen? Wie können Sie sich einbringen? Wie bekommen alle die Chance, Bedeutung für andere zu bekommen – nach Möglichkeit Tag für Tag?

Hier gibt es schon viele gute Projekte, Ideen, Kooperation – und viel Ungewissheit. Einige Gedanken, die Richard Sennett bei der Untersuchung des Handwerks anstellt, können für uns hilfreich sein, wenn wir uns hinauswagen ins Feld, zu den Menschen, ins Dorf, ins Quartier. So ist Perfektionismus ein schlechter Ratgeber:

„Er [der Perfektionismus] bezieht sich auf Menschen, die mit sich selbst konkurrieren. Nichts erscheint solch einem Menschen gut genug, wenn er sich mit dem vergleicht, was er sein könnte. … Perfektionismus ist eine Verhaltensfalle.“ (S. 335f.)

Es geht nicht um das ideale Projekt, die perfekte Idee, ausgetüftelt bis ins kleinste Detail, nicht um Wettbewerb. Wer Kooperationen wagt, muss immer auf Überraschungen gefasst sein. Auch aus dem Scheitern kann man lernen, manchmal mehr als aus einem gelungenen Projekt. Anfangen ist besser als immer weiter nach der perfekten Idee zu suchen.

„Der gute Handwerker versteht die Bedeutung der Skizze, die dafür steht, dass man zu Anfang noch nicht genau weiß, worauf etwas hinauslaufen soll.“ (S. 347)

Ja, wir wissen nicht, wie das dann alles sein wird, wenn Gemeinde sich als Teil des Gemeinwesens versteht und die Bedürfnisse der Mitglieder nicht höher bewertet als die aller Dorfbewohner. Aber das Wagnis ist es wert und Hoffnung gehört zu unserer Grundüberzeugung. Und wenn wir es schaffen, dass Menschen Bedeutung für andere haben, dann wird die Kirche Bedeutung für die Menschen haben.

 

Literatur: Klaus Dörner, Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem. 4. Auflage 2007.

Richard Sennett, Handwerk. 2009.

 

Thomas Stürmer, 2019

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